Alessandro Rapiti

Die Flucht

Angesichts der Rückkehr der Menschen gibt der Löwe der Angst nach und flieht. Doch im Echo der Schreie des Mädchens erkennt er, dass die Angst nicht stärker sein kann als das gegebene Wort.

Der junge Löwe rannte zwischen den Bäumen, und sein Herzschlag dröhnte ihm lauter in den Ohren als sein eigener Atem. Er hatte sich noch nie so verängstigt gefühlt.

Die Stimmen der Menschen hallten plötzlich durch den Wald: hart, rau, wie Donner, der zum Schlag bereit ist. Die Entführer sprachen miteinander, lachten boshaft, und jedes Wort ließ dem Löwen das Blut gefrieren.

Er hatte dem Mädchen versprochen, ihr zu helfen, und doch… hatte er sich entschieden zu fliehen.

Er rannte lange, ohne sich umzudrehen, bis er auf einer von Mondlicht erhellten Lichtung stand. Er blieb keuchend stehen, atemlos, mit gesenktem Schwanz. Er fühlte sich klein, kleiner als je zuvor. Ein Feigling.

Er schloss die Augen, und in der Dunkelheit seines Geistes hörte er die Stimme seiner Mutter: — Vertraue niemals den Menschen, mein Sohn. Sie sind gefährlich. Fliehe immer vor ihnen. — Dann die strenge Stimme seines Vaters: — Ein weiser Löwe riskiert nichts für Menschen. Ihr Herz ist dunkel. Vergiss das nie. —

Diese Worte hatte er schon als Junges gehört. Und jetzt, in der Angst, erschienen sie ihm richtig. „Ich habe gut daran getan zu fliehen… ich habe gut daran getan…“ wiederholte er für sich.

Doch genau in diesem Moment traf ihn ein anderes Geräusch, stärker als die Stimmen seiner Eltern in seinem Kopf. Es war ein Echo, das sich in die Stille des Waldes zog. Ein Schrei.

— Hilfe! Hilfe! — Es war die Stimme des Mädchens.

Der junge Löwe spitzte die Ohren. Sein Herz machte einen Sprung. Jede Träne, die das Mädchen vergoss, schien wie Feuer in ihn hineinzufallen.

Er konnte sie nicht aus seinen Gedanken vertreiben: das Bild ihres tränenüberströmten Gesichts, die zitternden Hände, die sich nach Freiheit streckten, die Augen, die ihn voller Vertrauen angesehen hatten, als er versprach, sie zu retten.

Und doch war er geflohen.

Er sank zu Boden, biss sich auf die Lippe und kratzte mit den Pfoten die Erde. “Feigling! Ich habe ein Kind allein gelassen… Und wofür? Aus Angst?”

Er blickte zur Mondin auf, die riesig über dem Wald leuchtete. Sein Atem war schwer, seine Gedanken ein Wirbel. Doch inmitten dieser Verwirrung entstand etwas Neues.

Die Angst war nicht mehr eine Mauer, die ihn aufhielt. Sie wurde zu einer Last, die er abschütteln wollte, ein Antrieb, der ihm sagte: “Du kannst sie nicht dort lassen. Du kannst dein Versprechen nicht brechen.”

Der Löwe wusste noch nicht wie, aber er verstand, dass er sich ändern musste. Und in dieser Nacht würde er entscheiden, wer er wirklich war: ein Flüchtender… oder ein Mutiger.

Die Flucht